Wie derb darf Martin Luther heute sein?

Der KI-Martin-Luther-Avatar, den die Evangelische Kirche im Rheinland am Reformationstag im letzten Jahr  in einem YouTube-Livechat vorgestellt hat, wird mit Unterstützung des EKD-Digitalinnovationsfonds weiterentwickelt. In die zukünftige Ausgestaltung des KI-Avatars fließen Ergebnisse aus einem Workshoptag ein, der vom Lehrstuhl für Medienkommunikation, Medienethik und Digitale Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg organisiert wurde.

Stünde Martin Luther heute vor der Wittenberger Schlosskirche, wäre das wohl ein ziemlicher Kulturschock – für den Reformator und für die Wittenberger des 21. Jahrhunderts. Der sprachgewaltige, wenn nicht manchmal derbe Mönch lebte vor 500 Jahren. Am 31. Oktober 1517 veröffentlichte er 95 Thesen mit Kritik an der Kirche seiner Zeit, die später zum Entstehen der evangelischen Kirche führte. Wegen seiner judenfeindlichen Äußerungen wird er heute kritisiert. Dennoch hätte Luther wohl viel Spannendes aus seiner Zeit zu berichten, wenn man ihn nur fragen könnte.

Forschende diskutieren über Avatar des Reformators

Wozu solche digitale Inkarnationen gut sein können und worauf man bei ihrer Programmierung achten sollte, darüber haben Studierende und Forschende in Erlangen diskutiert. Dazu gehört die Frage, wie authentisch so ein digitaler Luther überhaupt sein kann. „Es gibt die historische Figur Martin Luther, die gelebt hat. Aber zu ergründen, wie der tatsächlich war, ist Gegenstand historischer Forschung“, sagt Florian Höhne, Lehrstuhlinhaber für Medienkommunikation, Medienethik und Digitale Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Manches sei in der Forschung Konsens, anderes umstritten. „An diesen einen Luther kann ich nicht herankommen.“

Das Erscheinungsbild des Avatars basiert auf einem 3-D-Modell des Luther-Porträts von Lucas Cranach. Diesem wurde ein mittelgroßer und mittelschlanker Körper verpasst, der in einem modernen Talar steckt. Luther als evangelischer Pfarrer statt als katholischer Mönch. Höflich und kompromissbereit, aber auch recht farblos beantwortete der Avatar am Reformationstag im vergangenen Jahr in einem digitalen Kirchenraum eine Stunde lang Chatfragen von Usern – auf Hochdeutsch, nicht im Sächsisch des 16. Jahrhunderts.

Die Herausforderung der Sprachgewalt Luthers

Grundlage für die Antworten des Luther-Avatars war damals ChatGPT und dessen Wissen über Luther, erzählt der Pfarrer und Diplom-Informatiker Ralf Peter Reimann, einer der Entwickler des Avatars .  „Dabei wurden von ChatGPT auch Antworten oft geglättet, wodurch Luthers Sprachgewalt natürlich nicht durchschlägt.“ Für eine aktualisierte Version haben die Programmierer darum jetzt Texte und explizit auch überlieferte Zitate von Luther eingespeist und mit verschiedenen Sprachmodellen getestet. „Manchmal konnten wir einige Zitate aber nicht hochladen, weil sie als derbe Sprache markiert wurden“, berichtet Reimann.

Umgang mit kontroversen Aussagen

Besonders schwierig wird es mit Aussagen des Reformators, die heute nicht unkommentiert stehen gelassen werden können wie etwa seine judenfeindlichen Tiraden. „Luthers Antijudaismus darf ich nicht verstecken“, betont der Ethiker Höhne. „Gleichzeitig hat in der Kirche in der Zwischenzeit auch eine Aufarbeitung stattgefunden. Beides muss ich irgendwie mit einbeziehen.“

Zielgruppenorientierte Anpassungen für den Bildungsbereich

Lea Stolz vom Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Universität Tübingen plädiert für einen unterschiedlichen Umgang je nach Zielgruppe: Werde der Luther-Avatar zu Bildungszwecken im Unterricht eingesetzt, könne man auch mit kritischen Originalaussagen arbeiten. „Man müsste dazu einen sicheren Rahmen mit einem begleitenden Reflexionsangebot schaffen“, sagt sie – also keine öffentliche, nicht moderierte Unterhaltung mit dem Avatar wie am Reformationstag 2023.

Auch die Programmierer der rheinischen Kirche denken mit der Weiterentwicklung ihres virtuellen Luther inzwischen mehr in Richtung Bildungsarbeit. „Die Frage ist nicht, ob es einen virtuellen Luther gibt oder nicht“, gibt Reimann zu bedenken, denn KI-Tools wie „Hello History“ haben längst einen Luther-Chatbot im Angebot. „Diese sind häufig von der Qualität her sehr schlecht. Da müssen wir etwas Gutes dagegen setzen.“

Einige Fortschritte hat der Luther-Avatar bereits gemacht. Inzwischen ist bereits über ein Mikrofon ein direkter Dialog mit ihm möglich. Aber der KI-Avatar sollte die Fähigkeit erhalten, je nach Zielgruppe anders zu agieren, so ein Votum aus dem Workshop an der Universität Erlangen-Nürnberg. Solche Entwicklungen sind nun dank der Unterstützung durch den EKD-Digitalinnovationsfonds möglich.

Wer Interesse hat, den KI-Avatar im Unterricht oder der Gemeindearbeit zu erproben, kann über online@ekir.de mit den Entwicklern Kontakt aufnehmen.

  • 28.10.2024
  • epd, Red.